I. Soldwisch: Das Europäische Parlament 1979–2004

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Title
Das Europäische Parlament 1979–2004. Inszenierung, Selbst(er)findung und politisches Handeln der Abgeordneten


Author(s)
Soldwisch, Ines
Series
Forum historische Forschung: Moderne Welt
Published
Stuttgart 2021: Kohlhammer Verlag
Extent
302 S.
Price
€ 59,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Manuel Müller, Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen

Wohl keine andere demokratische Institution der Zeitgeschichte hat in so kurzer Zeit so stark an Bedeutung gewonnen wie das Europäische Parlament. 1952 als weitgehend machtlose parlamentarische Versammlung eingerichtet, verstanden sich viele seiner Mitglieder schon frühzeitig als Vertreter:innen eines „europäischen Volkes“, mussten sich anfangs aber großteils auf Symbolpolitik beschränken. Ab 1979 wurde das Parlament direkt gewählt, was ihm höhere Legitimität, aber zunächst keine zusätzlichen Kompetenzen einbrachte. Die Vertragsreformen von der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 bis zum Vertrag von Lissabon 2007 führten dann jedoch zu einer schrittweisen Aufwertung. Heute ist das Parlament ein zentraler machtpolitischer Akteur mit Einfluss auf die Gesetzgebung, den Haushalt und die Besetzung der wichtigsten Exekutivämter der EU.

Während dieser Aufstieg des Europäischen Parlaments immer wieder Gegenstand zeitgenössischer politikwissenschaftlicher Analysen wurde, schenkte die Geschichtswissenschaft ihm bislang nur wenig Aufmerksamkeit. Dies mag daran liegen, dass die Entwicklung recht neu und der Wandlungsprozess der EU von einer technokratisch geprägten überstaatlichen Organisation zu einer parlamentarischen Demokratie bis heute nicht abgeschlossen ist. Nach wie vor funktioniert das Europäische Parlament in vieler Hinsicht anders als die meisten nationalen Parlamente (insbesondere fehlt ihm das typische Wechselspiel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition) und entzieht sich dadurch einer einfachen Einordnung. Dennoch oder gerade deshalb gilt: Wer die politische Gegenwartsgeschichte Europas verstehen will, kommt um den Blick auf das Europäische Parlament nicht herum – und so ist es dringend geboten, auch den Wandel des Parlaments selbst zu historisieren.

Hierzu leistet Ines Soldwisch einen akteurszentrierten Beitrag, der insbesondere auf Ansätze der politischen Kulturgeschichte zurückgreift. Im Mittelpunkt ihrer Studie steht die „Selbsterfindung und Selbstfindung“ (S. 15) der Europaabgeordneten in einem „postmodernen“ Parlament (S. 31), das nicht nur permanentem Wandel ausgesetzt, sondern auch in seiner institutionellen Natur ohne Vorbild war: Es war das weltweit einzige direkt gewählte überstaatliche Gremium, wuchs durch die EU-Erweiterungen immer weiter an, hat drei verschiedene Arbeitsorte und eine Vielzahl von Arbeitssprachen, und es verfügt über ein eigentümliches Set an Kompetenzen, das zwar ständig zunahm, aber bis heute zum Beispiel kein Initiativrecht umfasst.

Soldwisch fragt zum einen danach, wie sich die Abgeordneten unter diesen Verhältnissen zurechtfanden, Routinen entwickelten, Kommunikations-, Organisations- und Sozialisationsstrukturen etablierten. Zum anderen interessiert sie sich für die Inszenierungen, mit denen die Abgeordneten das Parlament als Bühne nutzten, um ihr Selbstverständnis und ihre politische Rolle gegenüber der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Dafür greift sie auf eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen zurück, die von den Geschäftsordnungen des Parlaments über Autobiografien und andere Veröffentlichungen von Abgeordneten und Parlamentsmitarbeiter:innen, Ratgeberliteratur für werdende Abgeordnete, journalistische Quellen und offizielle Statistiken bis zu Fotos und Filmaufnahmen reichen.

Im Ergebnis steht eine „Geschichte der Emanzipation“ des Parlaments (S. 33), das zwischen 1979 und 2004 vom „Diskutierforum“ zum „Entscheidungsgremium“ wurde (S. 32). Als zentralen Wendepunkt in dieser Entwicklung sieht Soldwisch den Vertrag von Maastricht 1992/93, der als wichtigste institutionelle Reform im Untersuchungszeitraum dem Parlament zahlreiche neue Kompetenzen und damit auch eine neue politische Rolle einbrachte. Allerdings hebt die Autorin zu Recht hervor, dass diese Reform nicht nur auf die nationalen Regierungen zurückzuführen ist, sondern auch auf „die Strategie des Parlaments […], immer mehr zu fordern und zu inszenieren, als realpolitisch erreichbar war“ (S. 40). Letztlich sei das Parlament „durch das Inszenieren von Macht zu seiner Macht gekommen“ (ebd.).

Im Einzelnen beleuchtet das Buch die Entwicklung des Europäischen Parlaments schlaglichtartig in vier Bereichen, denen jeweils ein Kapitel für die Zeit vor und eines nach dem Vertrag von Maastricht gewidmet ist.

Der erste dieser Bereiche betrifft die symbolpolitisch aufgeladene Frage der Parlamentsgebäude. Bis in die 1990er-Jahre tagte das Europäische Parlament nicht in eigenen Räumlichkeiten, sondern war lediglich Gast des Europarats in Straßburg. Einzelne Plenarsitzungen fanden zudem in Luxemburg statt, Fraktions- und Ausschusssitzungen ab den 1980er-Jahren meist in Brüssel. Doch nicht nur die ständigen Ortswechsel minderten die Arbeitseffizienz des Parlaments; die Gebäude waren auch technisch oft unzureichend eingerichtet und entsprachen ästhetisch nicht immer den Wünschen der Abgeordneten. Dies änderte sich ab 1992 wenigstens zum Teil. Zwar konnte das Parlament sich mit seiner Forderung nach einem einzigen Sitz nicht durchsetzen. Doch sowohl in Straßburg als auch in Brüssel entstanden Neubauten, die ausschließlich vom Parlament genutzt wurden und ästhetisch wie funktional eher auf der Höhe der Zeit waren. Der Aufstieg des Parlaments spiegelte sich so auch in der Architektur wider – auch wenn nicht jede Symbolik erfolgreich war und etwa der überdimensionierte Straßburger Plenarsaal in der Öffentlichkeit oft zu Bildern von leeren Stuhlreihen führte.

Der zweite Bereich fokussiert auf die Geschäftsordnung des Parlaments, die bis 1992 etwa alle zwei Jahre, danach sogar fast jährlich geändert wurde. In diesen Geschäftsordnungsrevisionen reflektierten sich auch die veränderten Selbstorganisationsbedürfnisse der Abgeordneten angesichts ihrer wachsenden Kompetenzen: Gestraffte interne Verfahren und ein gestärktes Parlamentspräsidium sollten die Arbeitseffizienz erhöhen und Störungen durch einzelne Abgeordnete leichter unterbinden. Auch dass die Ausschüsse gegenüber dem Plenum an Bedeutung gewannen, zeigt den Übergang von einem primär auf große öffentliche Debatten zu einem stärker auf Entscheidungen und fundierte Sacharbeit ausgerichteten Parlament. Die 1993 eingeführten Mitspracherechte in der Gesetzgebung beschleunigten diese Professionalisierung des Parlaments.

Ein dritter Schwerpunkt des Buchs ist dem Selbstverständnis und den sozialen Rollen der Europaabgeordneten gewidmet. Bei der ersten Direktwahl 1979 hatten sich noch zahlreiche auf nationaler Ebene bekannte Persönlichkeiten ins Parlament wählen lassen – und ihr Mandat oft schon nach kurzer Zeit wieder abgegeben. Später nahm hingegen die Zahl der Politiker:innen zu, die über keine nationalen Vorerfahrungen verfügten, sondern gezielt eine Karriere auf EU-Ebene verfolgten und sich stärker mit der Institution des Europäischen Parlaments identifizierten. Als Sozialisierungsinstanz spielten dabei die Fraktionen eine große Rolle. Deren Vorsitzende wurden mit der wachsenden Macht des Parlaments zunehmend wichtiger, um eine Vielzahl nationaler Sichtweisen zu gemeinsamen Positionen zu bündeln.

Schließlich beleuchtet Soldwisch die Wahl der Parlamentspräsident:innen, die im Europäischen Parlament nicht nur zu Beginn, sondern auch zur Hälfte der Legislaturperiode stattfindet. Ausführlich analysiert sie den Ablauf der Wahl, die Persönlichkeiten der gewählten Präsident:innen sowie ihre Antrittsreden. Auch hier spiegelte sich der wachsende Einfluss des Parlaments wider: Während die Präsident:innen vor 1992 vor allem weitere Kompetenzen einforderten, sei es ihnen später vor allem darum gegangen, wie das Parlament die neu gewonnenen Kompetenzen nutzen sollte.

Im Ganzen gelingt es Soldwisch, den Wandel des Europäischen Parlaments „von einer diskutierenden Versammlung zu einem Entscheidungsgremium“ (S. 285) für ganz unterschiedliche Bereiche nachzuzeichnen und seine Bedeutung für den Arbeitsalltag und die Selbstinszenierung der Abgeordneten zu veranschaulichen. Etwas bedauerlich ist dabei, dass trotz des akteurszentrierten Gegenstands die einzelnen Parlamentarier:innen nur wenig sichtbar werden. Ihre Interessen, Überzeugungen und Aktivitäten verschwinden oft in Statistiken oder treten hinter kleinteiligen Beschreibungen der Architektur oder einzelner Geschäftsordnungsregelungen zurück. Als Einzelpersonen treten in der Darstellung nur die Parlamentspräsident:innen hervor, die mir ihrer herausragenden Stellung aber kaum als repräsentativ für die Abgeordneten insgesamt gelten können. Auch zu den Personen, die den Alltag des Parlaments „von außen“ geprägt haben – Journalist:innen, Lobbyist:innen, Besucher:innen – erfährt die Leser:in leider wenig.

Mit Lust auf mehr bleibt man schließlich auch in Bezug auf den Untersuchungszeitraum zurück. Natürlich: Zwischen der ersten Direktwahl und den Nach-Maastricht-Jahren wandelte sich die Rolle des Parlaments besonders schnell. Doch auch schon vor 1979 hatten die Abgeordneten sowohl organisatorisch als auch inszenatorisch wichtige Pflöcke eingeschlagen, auf die ihre direkt gewählten Nachfolger:innen dann aufbauten – etwa mit der Gründung der transnationalen Fraktionen oder mit der Selbstdarstellung als „Parlament“ statt als parlamentarische Versammlung. Und auch die Zeit nach 2004 hätte mit den neuen Inszenierungsmöglichkeiten des Internets sowie der Neuaushandlung der Rolle des Parlaments in der europäischen „Polykrise“ einiges von Interesse zu bieten. In der Darstellung wird die Vorgeschichte jedoch allzu kursorisch auf nur zwei Seiten abgehandelt, die Nachgeschichte erscheint nicht einmal in Form eines Ausblicks.

Diese Punkte sind aber weniger als Mängel zu verstehen denn als verbleibende Anknüpfungspunkte in einem historisch insgesamt noch untererforschten Feld. Zur Geschichte des Europäischen Parlaments und seiner Akteur:innen bleibt noch einiges zu sagen. Mit ihrer lesenswerten Studie hat Ines Soldwisch dazu interessante Schneisen geschlagen, die neue Perspektiven eröffnen können.

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